4tiitoo WeTab - Das deutsche Prestigedesaster

07.06.2011 yahe legacy review

Es war eines der heißesten Themen des letzten Jahres. Der iPad-Killer aus Deutschland sollte es werden und zeigen, dass die Republik DER Standort für innovative, offene Systeme ist. Doch dann ging es bergab: Auf der ersten Presseschau spielte der Prototyp lediglich ein Video ab. Die ersten Geräte wurden vollkommen unfertig auf den Markt geworfen. Der damalige Neofonie-Chef verspielte die letzte Glaubwürdigkeit durch gefälschte Kundenrezensionen bei Amazon. Daraufhin folgte sein Rücktritt und die Übergabe des kompletten Projektes an den Partner 4tiitoo.

Das ganze ist inzwischen über ein halbes Jahr her, genug Zeit also, um das Produkt endlich fertig zu stellen und einen ernsthaften Konkurrenten für Apple abzuliefern. Da mich der Gedanke, mir eins der Modelle von den Elektrodiscounter-Grabbeltischen zu kaufen, nicht sonderlich ansprach, fragte ich einfach mal bei 4tiitoo an, ob ich ein Presse-Testexemplar erhalten könne. Nach ein bisschen Wartezeit trudelte es tatsächlich ein. Das von mir erhaltene WeTab beinhaltete schon das neue "WeTab OS 2.0" in das wohl einige Verbesserungen eingeflossen sein sollen. So wird es derzeit u.a. bei Amazon verkauft.

WeTab OS 2.0

Die genauen Hardware- und Software-Spezifikationen kann man direkt der Webseite des Herstellers entnehmen. Ich habe mich bei meinen Tests auf die Bedienbarkeit des Gerätes in seinem Auslieferungszustand konzentriert. Mir ist bekannt, dass man auf dem Gerät ein anderes Betriebssystem installieren kann. Zum einen glaube ich jedoch, dass normale Endanwender dies nicht können/tun werden und zum anderen bin ich mir nicht sicher, ob man damit nicht sogar seine Garantie auf's Spiel setzt. Für den Verlust der Garantie reicht immerhin bereits die Installation der Root-Shell aus dem offiziellen WeTab-Market.

Kommen wir zuerst einmal zu meinem ersten Eindruck beim Einschalten und Konfigurieren des Gerätes. Das erste, das einem beim Einschalten auffällt, ist die Lautstärke der Lüfter. Die springen nämlich bereits beim Hochfahren das erste Mal an. Ich sage es nur ungern, aber ein Tablet mit Lüftern geht meiner Meinung nach gar nicht. In einer ruhigen Umgebung wie einer Präsentation schalte ich sämtliche Tastentöne meiner Geräte aus. Wenn ich mir vorstelle, in solch einer Situation würde plötzlich der Lüfter meines Tablets anspringen, ich glaube, ich würde im Boden versinken. Unschön ist auch, dass die Lüfter beim Rotieren des Gerätes ein schabendes Geräusch von sich geben, nicht sonderlich laut, aber auch nicht sonderlich Vertrauen erweckend.

Die zwei nächsten Dinge kommen bereits kurze Zeit nach dem Einschalten zum tragen. Zum einen ist da das Gewicht und zum anderen der schlechte Bildschirm. Fangen wir mit dem Gewicht an. Laut offizieller Webseite wiegt das Gerät mit UMTS-Modul einen stolzen Kilogramm, also so viel wie eine volle Milchpackung. Und das merkt man auch. Der Arm, mit dem man das Gerät hält, wird extrem schnell müde. Aus diesem Grund hat man sich für das WeTab wahrscheinlich die Daumensteuerung einfallen lassen. Damit ist gemeint, dass man auf der rechten Seite eine Miniaturansicht des Home-Screens und (zumindest im Browser) auf der linken Seite eine Miniaturansicht des App-Inhaltes sehen kann. Mit den Daumen kann man dort nun wunderbar durch die Inhalte scrollen, wenn einen das Ruckeln dabei nicht stört. Das Gerät scheint so konzipiert zu sein, dass man es standardmäßig im Querformat nutzt. Leider gibt es auch hier ein großes Problem.

Daumensteuerung Daumensteuerung Daumensteuerung

Denn wie man auf dem dritten Foto sehen kann, ist das Gerät zur permanenten Bedienung via Daumen viel zu breit. Man wird also regelmäßig dazu gezwungen, umzugreifen, um irgendeinen Content anklicken zu können. Damit ist in meinen Augen das Bedienkonzept des Gerätes gescheitert. Es ist zu schwer, um es mit einer Hand zu halten und mit der anderen zu bedienen und es ist zu breit, um die angestrebte Daumensteuerung durchgehend zu nutzen.

Eine dritte Bedienmöglichkeit habe ich aus gutem Grund noch nicht erwähnt. Man könnte das WeTab ja auch auf einer Unterlage abstützen oder ablegen und es dann ganz normal bedienen. Ja, man könnte. Wenn das Gerät nicht so ein scheußliches Display hätte. Sobald der Winkel zum Display zu groß wird, bleichen die Farben aus. In eine Richtung invertieren sie sogar. Aus diesem Grund muss man immer möglichst gerade auf das Display gucken, was beim Abstützen auf einer Unterlage früher oder später zu Rücken- und Nackenproblemen führt, da man ständig seinen Blickwinkel korrigieren muss.

schlechtes Display schlechtes Display schlechtes Display schlechtes Display

Nachdem ich nun einen Überblick über meine Erfahrungen mit der Hardware gegeben habe, möchte ich gern noch auf das Betriebssystem, dessen Konfiguration und die Apps zu sprechen kommen. Das erste, was man mit solch einem Gerät wahrscheinlich macht, ist, ihm den Zugriff auf's Internet zu ermöglichen. Dazu musste ich die WLAN-Einstellungen anpassen. Einstellungen, die sind gar nicht so leicht zu finden. Auf dem Home-Screen gibt es dafür nichts. Mit dem Knopf "Anpassen" kann man nur die Widgets auf dem Home-Screen verschieben. Erst unter "Info" wird man fündig. Dort kann man zum einen das "Netzwerk einstellen" und zum anderen die "Einstellungen öffnen".

Netzwerk einrichten Netzwerk einrichten

So naiv, wie ich bin, dachte ich natürlich, ich müsse einfach nur das Netzwerk einstellen. Doch wirklich weiter kam ich dort nicht. Das Problem: In meinem WLAN gibt's keinen DHCP-Server, sodass ich die entsprechenden IP-Adressen manuell eintragen muss. Das beherrscht dieser Netzwerkmanager jedoch anscheinend gar nicht. Also wieder zurück, dieses Mal zu den Einstellungen und siehe da: Es gibt einen alternativen Netzwerkmanager, in dem man tatsächlich auch manuell die Adressdaten angeben kann. Sehr verwirrend.

Dann ließ ich die Uhrzeit des Gerätes mit dem Internet synchronisieren (praktisch aber sehr langsam), rief die neusten Aktualisierungen ab (noch sehr viel langsamer) und begab mich auf den Weg zum WeTab-Market. Nach einer etwas länglichen Registrierungsprozedur, in der ziemlich viele Informationen abgefragt werden, gelangt man dann auf die Themenübersicht. Der Market selbst wirkt sehr aufgeräumt und scheint in regelmäßigen Abständen mit neuen Programmen erweitert zu werden. Trotzdem sind derzeit gerade einmal ca. 120 Anwendungen verfügbar. Für ein Gerät, das seit über einem halben Jahr auf dem Markt ist, ist das absolut unterdurchschnittlich. Schlimmer noch: Bei meiner Stichprobe habe ich keine einzige Anwendung gefunden, die nicht direkt von 4tiitoo (die Firma hinter dem WeTab) stammt. Das wirft natürlich die Frage auf, ob es überhaupt eine Entwicklercommunity gibt, die hinter dem Gerät steht oder ob 4tiitoo auf zig Baustellen gleichzeitig arbeitet, um überhaupt irgendwas anbieten zu können.

WeTab-Market

Unter diesem Gesichtspunkt ist es sogar ein wenig verständlich, dass viele der "Apps" einfach nur Verweise auf Webseiten darstellen. Ein Trost für den potentiellen Käufer ist das natürlich nicht. Die wenigen Apps, hinter denen wirklich echte Anwendungen stehen, scheinen großteilig einfach auf das Betriebssystem portierte OpenSource-Anwendungen zu sein. Dabei stechen primär die OpenOffice-Suite, Thunderbird, Claws, GIMP, Chromium und Firefox hervor. Leider stechen sie eher negativ hervor, da ihre Oberflächen überhaupt nicht an die Touchbedienung angepasst worden sind. Dadurch hat man viel zu kleine Menüs, kein natives Scrolling (man muss tatsächlich die winzigen Scrollleisten verwenden) und natürlich auch keine Multitouch-Gesten (z.B. Pinch-to-Zoom).

unangepasste Anwendungen

Leider wird das Gerät auch sonst von allerlei Problemen heimgesucht. Beim Drehen des Gerätes geht der Bildschirm einmal komplett aus, um dann den Inhalt neu ausgerichtet wieder anzuzeigen. Meine Vermutung ist, dass im Hintergrund irgendein Dienst komplett neu gestartet wird. Der Home-Screen fällt manchmal komplett aus, wird komplett leer angezeigt und startet mit dem Hochfahren-Sound neu. Die Android-Integration ist derzeit ein simpler Android-Emulator. Wenn im Adressbuch Einträge mit Ä, Ö oder Ü beginnen, tauchen sie nicht in der A-, O- oder U-Liste auf. Die Anzeige ruckelt an allen Ecken und Enden, selbst dann, wenn man nur über den Home-Screen scrollt. Und noch einiges mehr.

weitere Kritikpunkte weitere Kritikpunkte

Was mich jedoch besonders aufregt, ist die Tastatur, die man über einen Knopf aufrufen kann. Sie ist von den einzelnen Anwendungen komplett entkoppelt. Das heißt, dass sie nicht erscheint, wenn ich im Browser einen Text eintippen will. Das heißt aber auch, dass sie einfach den Inhalt der Anwendungen überdeckt, teilweise inklusive des gerade aktiven Textfeldes.

Nochmal kurz zusammengefasst: Die Hardware ist für einen mobilen Einsatz nur unzureichend geeignet und die Software hat noch so viele Bugs, dass es sich lohnen könnte, auf Nachbesserungen zu warten oder sich direkt für ein Android-Tablet der neusten Generation zu entscheiden. Im Moment scheint das WeTab kaum mehr zu sein, als ein schwerer Webbrowser mit unzureichenden Text- und Bildbearbeitungsfunktionen, der im täglichen Gebrauch durchaus zu Frustschüben führen kann (Stichwort Display, Tastatur, Ruckeln, etc.). Ich habe gehört, dass der Einsatz alternativer Betriebssysteme Linderung bringen soll. Dort besteht dann jedoch die Gefahr des Garantieverlustes.

Ob ihr euch für oder gegen das Gerät entscheidet, bleibt schlussendlich euch überlassen. Eventuell wollt ihr ja gerade ein Gerät zum rumbasteln und modden haben. Dann wäre die relativ offene Plattform vielleicht genau das Richtige für euch.


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